Stiftung Casa Immanuel – erfüllt Beziehung leben.

«Mal ehrlich, wie geht es dir, Christian Uwe?»

Als Marketingleiter und «Schreiberling» bin ich es gewohnt, anderen Menschen Fragen zu stellen. Huch, jetzt muss ich mal Farbe bekennen? Ich weiss ja gar nicht, ob ich etwas zu sagen habe... Doch nach einige Schrecksekunden merke ich, dass da ganz schön viele Gefühle «umme» sind in mir.

Zuerst ist da mal Dankbarkeit.

Ich bin seit fünfeinhalb Jahren Teil der Casa Immanuel und durfte schon so viele emotionale Heilungen, ja geradezu Totenauferstehungen erleben wie nie zuvor in meinem Leben. Es ist einfach nur genial, dass es diesen Ort der Sicherheit, Geborgenheit und Ermutigung gibt. Seit über 20 Jahren investieren sich hier Menschen für andere Menschen, die ins Straucheln geraten sind. Sie hoffen für Verzagte, denen die Hoffnung abhanden gekommen ist. Sie glauben für die Ratsuchenden an eine Zukunft in der Fülle und Weite ihres Lebens, wenn diese sich dazu entscheiden, ihr Leben aufzuräumen. Sie sind zutiefst davon überzeugt, dass es keinen hoffnungslosen Fall gibt, auch wenn alles in Trümmern liegt. Sie haben einen kleinen Glauben an einen grooooossen Gott, von dem sie wissen: Jeder Mensch ist einmalig, unendlich wertvoll und bedingungslos geliebt. Jeder!

Das begeistert mich zutiefst.

Dafür schlägt mein Herz. Die strahlenden Augen eines Menschen, der wieder Hoffnung für sein Leben gewonnen hat, auch wenn die Umstände immer noch finster sein mögen, diese hoffnungsfrohen Augen geben mir selbst um ein Vielfaches die Hoffnung zurück, die ich durch meine Arbeit in diese Person indirekt investiert habe.

Doch direkt daneben liegt ein tiefer Schmerz.

Denn wie sehr wünsche ich mir, noch viel mehr leuchtende Augen zu sehen und noch viel mehr Berichte zu hören von überwundenem Selbsthass, von wiedergewonnener Hoffnung, von neuem Vertrauen in einen liebevollen Vater im Himmel, wo doch der Vater auf der Erde Liebe mit Schlägen verwechselt hatte. Wieso machen sich nicht noch viel mehr Menschen auf den Weg zur Versöhnung mit ihren Verletzungen, die sie in die Sucht treiben, in die Depression, in die Gewalt gegen die Menschen, die sie «eigentlich» lieben, in die Verzweiflung? Wieso ist in unserem Haus grad wieder Flaute, wo es doch vor wenigen Tagen noch angefüllt war von aufgeweckten «Achtwochenkürslern»? Diese Fragen treiben mich um, umso stärker, je weniger Gäste im Haus sind, ich kann die Schmerzen dann förmlich spüren.

Dann kommt die Wut in mir hoch.

Die Not ist doch so gross! Die Menschen sind doch so verletzt, verängstigt, verwirrt! Ich habe jungen Leuten zugehört, sie sind Anfang, Mitte 20 und machen sich Sorgen um ihre eigene Altersarmut – meine Güte, das treibt mich schon auch mal um, aber ich bin schlappe 30 Jahre näher am Alter als sie. Ihre grossen Fragen, ja Lebensängste zu spüren hat mich wirklich schockiert. Oder die Familienväter, denen das Leben zwischen Familie und Arbeit und Schulden und Verantwortung über den Kopf wächst und die dennoch weiter funktionieren und die Zähne zusammenbeissen, die wahrscheinlich wissen, dass ihre Ehefrauen schon mal vorsichtshalber die Nummer eines Psychiaters herausgesucht haben, vielleicht beruhigt sie das, vielleicht beschämt sie das aber auch, egal, jetzt stell dich nicht so an, Mann, sagen sie zu sich selbst, es muss doch weitergehen... Bis es irgendwann nicht mehr geht. Wo sind ihre Anrufe, Anfragen, Anmeldungen?

Ich spüre: Ich muss das loslassen.

Und loslassen fällt mir schwer! Ich weiss ja (im Kopf): Es gehört eine grosse Portion Mut dazu, in den Spiegel zu schauen und zu sich selbst zu sagen: Du brauchst Unterstützung. Du darfst es dir wert sein, dir Hilfe zu suchen. Du bist zu wertvoll, um einfach so weiterzuwurschteln! Zwischen diesen Sätzen und dem daraus folgenden Handeln – ich rede mit meinem Partner, meinem Chef, meinen Eltern, meinen Kindern, ich nehme das Telefon in die Hand, ich suche mir Rat, vielleicht sogar in der Casa Immanuel – steht allerdings unser freier Wille. Es ist eines der schönsten Geschenke, die Gott den Menschen gemacht hat: frei entscheiden zu können, welchen Schritt wir als nächstes machen wollen. Und selbst wenn uns alle anfeuern und aufmuntern und zujubeln: Entscheiden dazu, mich meinen Verletzungen zu stellen, muss jede Person selbst.

Und so darf ich immer wieder mit dem Herzen buchstabieren:

Ich kann nicht jeden Menschen retten. Nein, im Gegenteil: Ich muss überhaupt niemanden retten! Und ich muss es nicht persönlich nehmen, wenn es nur wenige Likes auf unsere Posts in den sozialen Medien gibt oder niemand mal ein «gut gemacht!» auf unseren Newsletter schreibt. Mehr noch, ich darf es nicht persönlich nehmen. Ich bringe meine fünf Brote und zwei Fische, das genügt. Gar nicht so leicht, schliesslich bin ich als Marketingleiter ja irgendwie verantwortlich, dass wir Nachfrager für unsere Angebote finden... oder etwa nicht? Wie sagte doch jüngst jemand zu mir: «Du musst nicht die Casa retten...»

Und es stimmt tatsächlich: Erst im Loslassen werde ich beschenkt.

Denn je verbissener ich kämpfe, umso wahrscheinlicher wird überhaupt nichts Wertvolles entstehen. Es ist, als wollte ich ein Tauschgeschäft mit Gott machen: «Schau, das und jenes habe ich gemacht, nun mach du aber bitteschön auch deinen Part und schick uns all die Verzweifelten und Suchenden und Fragenden ins Haus.» Ertappt! Da halte ich an einer Erwartung fest, formuliere einen Rechtsanspruch – «wenn ich mache, machst du auch, gelle!» – und bin dann auch noch wütend, wenn das Spiel nicht nach meinen Regeln verläuft. Autsch!

Wie geht es mir also, ehrlich?

Auch wenn es mir noch etwas schwer fällt, es so klar auszudrücken: Ich bin durchaus zuversichtlich. Ja, es gibt sie noch, die verzagten Tage, wenn das Telefon nicht klingelt und sich nicht mal eine Spam-Mail in unser Postfach verirrt. Und doch glaube ich, dass Gott noch sehr viel vorhat mit der Casa Immanuel, wer weiss, vielleicht noch viel mehr als bisher – und dass er mich sehr bewusst dort eingesetzt hat. Ich spüre, dass der ungesunde Retter-Druck nachlässt. Ich weiss, was ich kann (und ich weiss auch, was ich nicht kann). Ich bin dankbar für meine Ehefrau und freue mich über unser quirliges Hündchen und bin ziemlich sicher, dass wir auch im Alter nicht unter der Brücke schlafen müssen. Und ich bin gespannt darauf, jeden Tag «mit Jesus zäme» einen weiteren Schritt ins neue Land der Gelassenheit zu setzen.

Christian Uwe Schreiber