«Mal ehrlich, wie geht es dir, Esther?»
Am 30. August feierte Esther Königsdorfer zusammen mit den Mitarbeitern der Casa Immanuel auf einem emotional sehr berührenden Fest in der Stiva ihren 64. Geburtstag (der «eigentlich» erst am 31. August war) und zugleich – ihre Pensionierung! Grund genug also, Esther – sie ist Mitglied der Geschäftsleitung, Leiterin der WG-Lebensschule und Lebensberaterin – nach ihrem Wohlbefinden zu fragen.
Ganz ehrlich – es geht mir richtig gut! Und das nicht etwa, weil ich Ende August pensioniert worden bin, und auch nicht, obwohl ich nun Pensionärin bin. Es geht mit einfach gut, weil ich heute in einer Freiheit, einer Leichtigkeit, einer Selbstverständlichkeit leben darf, was ich alles so früher nicht kannte.
Ich wäre immer besorgt gewesen, dass ich ja niemanden enttäusche
Früher hätte mich ein solches Fest sehr gestresst. Nein, ich hätte es gar nicht zulassen können! Und falls doch, wäre mir total unwohl dabei gewesen. Ich hätte nie so im Mittelpunkt stehen wollen und wäre immer besorgt gewesen, dass ich ja niemanden enttäusche. So viele emotionale Momente an einem Abend – das hätte ich kaum ausgehalten.
Ehrlich – ich bin manchmal fast gestorben!
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Jahre als Mentorin unserer Wohngemeinschaften in der Casa. Ehrlich – ich bin manchmal fast gestorben! Das hat zwar wohl kaum jemand gemerkt, aber für mich war es sehr, sehr schwierig. Oft war mir schon am Sonntagabend körperlich schlecht. Aus dem Minderwert heraus hatte ich eine massive Menschenfurcht entwickelt. Und die klaute mir das Leben. Das Schlimme an der Menschenfurcht ist, dass sie uns daran hindert, das Gute weiterzugeben, was wir auf dem Herzen haben. Und damit hat das Negative genau sein Ziel erreicht: Wir schweigen, anstatt in Beziehung mit den anderen zu treten, ihnen etwas Ermutigendes zu sagen, ihnen zuzuhören, sie ernst zu nehmen.
Das war mir wohl bewusst, und doch dauerte es Jahre, bis ich hier in die Freiheit durchbrechen durfte. Geholfen haben mir die Ermutigungen meiner Freunde und – ja, meine Hartnäckigkeit an der Seite von Jesus. Ich habe ihm immer wieder meine Herzenswünsche formuliert: «Ich möchte mich wohlfühlen im Umgang mit anderen. Ich wünsche mir einen klaren Kopf. Ich möchte in Freiheit leben.» Dabei bin ich treu geblieben und habe nicht aufgegeben, sondern habe mich dem Kampf gestellt: herauszukommen aus diesem elenden Minderwert, der aus meinem Alleinsein als Heranwachsende entstanden war. Und Jesus hat mich ernstgenommen und mich Schritt für Schritt ins Leben wachsen lassen.
Der Rache immer wieder das Stoppschild hingehalten
Heute weiss ich, und ich sage das auch immer wieder sehr klar: Schweigen ist nicht nur kein Gold, obwohl der Volksmund das ja behauptet, sondern im Gegenteil eine brutale Rache an meinen Eltern. Ich sagte ihnen unbewusst: «Schaut mal, weil ich euch damals so egal war, sind es die anderen mir heute auch.» Wenn wir jedoch mutig weitergeben, was unser Herzensanliegen ist, also nicht schweigen, dann wird Jesus uns unterstützen und inspirieren. Sagen, was wir auf dem Herzen haben, genügt! Klar war das ein langer Weg. Ich musste endlich ehrlich zu mir selbst werden und mich annehmen, wie ich bin – was früher ja viel zu gefährlich war. Und dann musste ich verzichten lernen aufs Weglaufen und der Rache immer wieder ein Stoppschild hinhalten. Das war harte Arbeit.
Zeit für neue Wege
So konnte ich das Fest, das nur für mich gegeben wurde und zu dem ich nichts beigetragen hatte, in vollen Zügen geniessen. Ich war selbst erstaunt zu entdecken, wie sehr es sich lohnt, wenn wir uns mit unseren schwierigen, lebensfeindlichen Prägungen in der Tiefe versöhnen. Und wie als Symbol ist auf dem Weg von zuhause zur Feier ein Riemen meiner Sandalen gerissen, so als wollte Jesus sagen: «Zeit für neue Wege! Das Alte ist vergangen, du hast genug gekämpft. Schuhe aus, ab in die Freiheit!» Das fand ich schon sehr eindrücklich und liebevoll von ihm. So bin ich barfuss zu meiner Pensionsfeier gegangen! Früher wäre ich sicherlich umgekehrt oder hätte mir ein Mauseloch gesucht, um darin zu verschwinden.
Auszeit auf einer Alphütte
Was kommt jetzt? Jetzt erfülle ich mir endlich einen Wunsch, den ich schon seit 30 Jahren in mir trage: Ich mache eine Woche lang eine Auszeit auf einer Alphütte. Ganz alleine! Darauf freue ich mich sehr. Früher war Alleinsein für mich sehr schmerzhaft. Inzwischen habe ich Heimat in mir gefunden und bin ganz gerne allein. Ich bin so gespannt, mich selbst in der Abgeschiedenheit wahrzunehmen und zu erleben! Und klar möchte mich auf meinen letzten Lebensabschnitt ausrichten, aber nicht verbissen oder ängstlich, sondern frohgemut. Ich will Neues ausprobieren! Dazu habe ich mir ein Malbuch gekauft und Acrylstifte, auch Malen möchte ich schon so lange, aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür, um meiner Kreativität endlich freien Lauf zu lassen.
Ich freue mich auf die Zukunft!
Und natürlich bleibe ich der Casa Immanuel erhalten. Ich liebe es, mein Herz zu verschenken und Menschen zu motivieren, ihren Weg in die Fülle und Weite ihres Lebens zu gehen. Jesus hat mir diese Gabe geschenkt, und die Not in der Welt ist unglaublich gross. Da werde ich gerne weiterhin mit anpacken, solange es für mich und für mein Umfeld stimmt. Und wer weiss, was Jesus mir auf meiner Hüttenzeit noch so alles anvertraut?! Ich freue mich auf jeden Fall sehr auf die Zukunft. Und ich danke allen, die mich auf meinem Weg bis heute begleitet haben. Es stimmt tatsächlich: Es gibt keinen hoffnungslosen Fall!
Protokoll: Christian Uwe Schreiber