Mal ehrlich, wie geht es dir, Nino?
Er war und ist bekannt als Energiebündel und Allroundtalent, er packt hier an und schafft dort mit. Doch während Nino Liesch früher manchmal etwas unsicher wirkte, tritt er heute selbstsicher und innerlich gestärkt auf. Was das mit seinem anderthalbfachen Resilienzjahr zu tun hat, erläutert der 34-Jährige im ausführlichen Interview.
Mal ehrlich, wie geht es dir, Nino?
Mir geht es gut! Ich spüre eine riesen Freude darüber, was bei mir in den vergangenen Monaten gegangen ist. Das gibt mir immer wieder Freuden-Momente. Ich schaue auf viele Perlen aus meiner Zeit im Resilienzjahr zurück und merke: Es hat sich wirklich einiges zum Guten verändert.
Also alles in Butter bei dir?
Naja... nein. Das Leben ist im Moment ganz schön herausfordernd. Das Resilienzjahr geht zu Ende, ich beginne als Angestellter bei der Casa Immanuel, ich starte zugleich wieder als Lehrperson, allerdings über 40 Kilometer weg von hier, dann zügle ich in wenigen Tagen... Nur weil ich heute anders auf die Umstände reagieren kann, heisst das ja nicht, dass sich diese auch grad mit ändern und leichter werden. Das ist ein häufiger Trugschluss, der zu Enttäuschungen führt.
Was hat sich also verändert, dass du heute Perlen sammelst?
Ich habe vor allem gelernt, mich selbst besser wahrzunehmen und zu spüren: Was brauche ich, was wünsche ich mir, was sind meine Bedürfnisse? Und zugleich schaffe ich es heute besser, mich darin anzunehmen und ein Ja zu mir zu haben. Erst dadurch kann ich mich spürbar machen, mich also anderen Personen mit meinen Bedürfnissen zumuten und zugleich bei mir selbst bleiben. Ich habe beides als Heranwachsender leider nicht wirklich gelernt.
Aber ist das nicht anstrengend? Wenn ich einfach mache, was mir andere sagen, komme ich doch viel leichter durchs Leben (räusper, räusper) ...
Sich zumuten schafft tatsächlich manchen Konflikt! Aber erst dadurch sind doch echte Beziehungen möglich. Wenn jeder in der Harmonie bleibt, entsteht kein Austausch auf Augenhöhe oder – besser gesagt – auf Herzensebene. Entscheidend ist, dass ich heute in herausfordernden Situationen, wenn sich Meinungen und Ansichten reiben, anders agieren und reagieren kann. So lebe und erlebe ich Beziehungen auf eine neue, gesunde Art. Ich muss nicht mehr mein Herz verraten und mich «gehorsam» unterordnen oder entgegen meinen Überzeugungen anpassen. Und ich muss mich auch weniger zurückziehen oder wegducken – oder ganz flüchten.
Das klingt erwachsen!
Ja, das stimmt. Ich fühle mich heute viel mehr gemeint als früher. Ich weiss inzwischen, dass andere Menschen meine Meinung tatsächlich interessiert. Ich bin überzeugt davon, dass meine Meinung wertvoll ist und ich dieser Welt etwas zu geben habe. Das darf ich auch von mir aus sagen und muss nicht warten, bis mir jemand das Wort erteilt. Ich darf sein, wie ich bin, weil ich meinen Wert nicht mehr aus der Zustimmung durch andere definiere. Ja ich darf sogar jemanden konfrontieren! All das kannte ich vorher so nicht. Und das klappt auch nicht von heute auf morgen, es ist ein Lernprozess und braucht Übung. Und Barmherzigkeit mit mir selbst.
Das Resilienzjahr heisst so, weil es darin massgeblich um Resilienz geht – die Fähigkeit, in krisenhaften Situationen innerlich stark zu bleiben. Warum hast du dich im Sommer 2023 zur Teilnahme entschieden?
Ich wollte mir bewusst die Zeit nehmen, um mein Potenzial zu erkennen und zu entwickeln. Gott hat jeden Menschen so liebevoll und einzigartig gestaltet und ausgestattet! Umso mehr freut er sich, wenn wir diese Talente erkennen, weiterentwickeln und dann an die Welt verschenken. Ich bin überzeugt, dass genau darin der Sinn des Lebens liegt. Deshalb habe ich mich angemeldet. Um mich selbst besser kennenzulernen, konnte ich an unterschiedlichen Stellen im Betrieb mitarbeiten, etwa im Facility, da ich gerne handwerklich arbeite, und im Marketing.
Du hast aber auch oft das Küchen-T-Shirt getragen...
... was ich ursprünglich nicht wollte! Die Arbeit in der Küche ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch emotional – das Menü muss halt um 12.30 Uhr fertig sein. Diese Art Leistungsdruck kenne ich aus meinem Lehrerberuf so nicht. Küche hat viel mit Struktur und Organisation zu tun – nicht gerade meine Lieblingsstärken 😉 Aber gerade von meiner Arbeit in der Küche, die mich am meisten herausgefordert und auch geschmerzt hat, habe ich am meisten profitiert! Nach viel anfänglicher Reibung durfte ich hier die grössten Schritte machen. In den letzten Monaten habe ich mich gefreut, wenn ich in der Küche eingesetzt war. Für diese Entwicklung bin ich sehr dankbar.
Das ist Versöhnung!
Stimmt. Ich habe mich tatsächlich mit Strukturen und Prozessen versöhnt. Früher bin ich lieber davongelaufen, weil ich mich eingeengt und meiner Freiheit beraubt gefühlt habe. Ich habe Strukturen abgelehnt – heute kann ich sie viel mehr bejahen, weil ich weiss: Sie helfen mir, dass ich leben und meine Kreativität ausdrücken kann. Aber da ist immer noch Luft nach oben 😉
Wie ist es dir in der Resilienz-WG gegangen?
Der Austausch war sehr wertvoll für mich, gerade beim gemeinsamen Znacht haben wir uns gegenseitig ermutigt und voneinander gelernt. Das Zusammenleben war für mich sehr heilsam und damit ein wesentlicher Erfolgsfaktor für mein Resilienzjahr.
Ich habe dein Eindruck, dass dir die Verlängerung des «eigentlich» einjährigen Resilienzjahrs auf 18 Monate sehr gutgetan hat. Du wirkst nun parat für den nächsten Schritt.
Ich bin so froh über die Extra-Zeit. Nach dem Jahr hatte ich das Gefühl, dass ich das Gelernte weiter vertiefen und einüben möchte. Klar hätte ich «irgendwo» wieder ins «normale» Arbeitsleben reinspringen können, aber mein Herz wünschte sich noch etwas Schutzraum und Festigung.
Und was kommt jetzt, Nino?
Das Leben bleibt sicher spannend, auch im engeren Sinn! Denn ich werde einerseits im Herzensprojekt Casa Immanuel arbeiten und darf herausfinden, wie ich das Gelernte nun als «vollwertiger» Teil des Teams – allerdings in Teilzeit – umsetzen kann. Andererseits gehe ich zu 40% als Lehrer zur Stiftung Gott hilft ins Schulheim in Zizers: Dort unterrichte ich Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die Grenzen brauchen, Strukturen, Regeln, Orientierung, Unterstützung und Aufmerksamkeit. Da darf ich genau das üben, was ich in den vergangenen anderthalb Jahren erkannt und gelernt habe.
Diese Kinder dürfen nun von deiner Weiterentwicklung lernen! Was für ein Privileg.
Ja, das sehe ich auch so. Wo ich selbst an meinen Schmerzpunkten arbeiten konnte und Versöhnung erleben durfte, davon darf ich nun an junge Menschen weitergeben. Da freue ich mich sehr darauf. Und ich bin neugierig, wie ich das Spannungsfeld zwischen zwei Arbeitgebern, zwei Unternehmen, zwei Orten, zwei Kulturen erlebe. Das probiere ich jetzt einfach mal aus und bin überzeugt, dass es gut kommt. Da spüre ich auch viel mehr Gelassenheit in mir.
«Es kommt gut» heisst in der Fachsprache übrigens «Optimismus» und ist eine wesentliche Säule von Resilienz. Und jetzt geht’s in eine Männer-WG...
... yes man, da darf ich auch schön auf Augenhöhe bleiben 😊
Resilienz hat auch ganz viel mit einem gesunden Energiehaushalt zu tun. Wer resilient ist, rauscht nicht so leicht in ein Burnout. Was gibt dir Energie?
Gute Gespräche, Austausch bei einem lockeren Apéro. Rausgehen und die Sterne betrachten. Gitarre spielen, Worship für mich selbst… Und meine Weiterbildung in der Erlebnispädagogik! Es begeistert mich, wie Menschen beim gemeinsamen Anpacken draussen gleichzeitig an ihrer Beziehungsfähigkeit arbeiten. Etwas im Team unternehmen hat eine enorme Kraft für jeden selbst, übrigens auch für mich als Leiter einer solchen Aktion. Das flasht mich immer wieder und füllt mein Energiefass auf.
Und wo ging dir mal wirklich etwas daneben?
Ich schaue nicht mehr so sehr aufs Scheitern. Wenn ich mir etwas zutraue, gehe ich drauf zu – und wenn es nicht klappt, habe ich zumindest eine wichtige Erfahrung gemacht. Hätte ich es nicht ausprobiert, hätte ich auch nichts gelernt.
Die Freude, von der du am Anfang gesprochen hast, ist auch bei deinem Neuanfang spürbar. Da könnte «man» fast neidisch werden…
Ja gäll! Ich freue mich tatsächlich sehr, mein Gelerntes und Erkanntes einzusetzen. Ich freue mich auf viele neue Begegnungen, im Team in Zizers, mit den Kindern, im Team in der Casa Immanuel, mit unseren Gästen und Ratsuchenden. Ich bin gespannt auf neue Themen und Inhalte, als Lehrer lernt man selbst immer dazu. Doch am meisten freue ich mich darauf zu erleben, was das alles mit mir macht. Ich schlage ein neues Kapitel auf, stürze mich ins Abenteuer – was brauche ich nun darin, damit ich im «Mich-Verschenken-Modus» bleibe und mich nicht aufopfere und meine Energie und Freude verliere? Natürlich habe ich auch etwas Respekt, aber die Neugier und Freude überwiegen eindeutig.
Verstehe ich dich richtig, dass du das Resilienzjahr weiterempfehlen würdest?
Auf jeden Fall! Wenn du wissen willst, für was du gesetzt bist, was dich ausmacht und warum es deinen Beitrag in der Gesellschaft braucht – dann mach das Resilienzjahr! Allerdings passt es nicht für jeden und jede, denn wenn dir diese Fragen nicht im Herzen brennen, wird es eher mühsam. Aber wenn du entschieden bist, deinen Platz in der Welt zu finden – dann komm zu uns! Für mich war das Resilienzjahr das Beste, was mir passieren konnte.
Vielen Dank, Nino, für deine Offenheit! Wir wünschen dir von Herzen einen guten Start in der Casa Immanuel, bei Gott hilft in Zizers und in deiner WG.
Die Fragen stellte Christian Uwe Schreiber.